Freiheit – Gleichheit – Republik ............
Diese Parole war im Revolutionsjahr 1848 der hoffnungsvolle Schlachtruf vieler Menschen in Deutschland. Hier im Rheinland fügte man etwas leiser an diese Parole den sehnsüchtigen Seufzer hinzu: "Ach wäre mir doch die Preuße quitt!"
Als unsere Schule 1852 als Bürgerschule ins Leben gerufen wurde, war dieser Wunsch großer Teile der rheinischen Bevölkerung gerade wie eine schöne Seifenblase zerplatzt. Seit 1815 waren die Preußen Landesherren im Rheinland. Diese nüchternen norddeutschen Protestanten waren Nachfolger der Kölner Kurfürsten geworden, an deren klüngelige, sich gegenseitig etwas gönnende und augenzwinkernde Lebens- und Regierungsweise man sich auch in Rheinbach seit Jahrhunderten gewöhnt hatte. Der eingeborene Rheinländer liebte die neuen Herren nicht. Diese arroganten Preußen wussten immer alles besser – aber wirklich verstanden haben sie von der rheinischen Mentalität und Lebensweise meistens nur sehr wenig oder gar nichts. Das soll ja auch heute noch öfters der Fall sein. Jedenfalls erhielten die Rheinländer 1848 weder die politische Freiheit, geschweige denn eine Republik und die Preußen dachten auch nicht daran, die Rheinlande aufzugeben – trotz der angeblich so schlampigen unmilitärischen Denk- und Handlungsweise dieser nach preußischer Auffassung fast unregierbaren Bevölkerung. Steckten diese Rheinländer sich doch Blumen in die Gewehrmündungen und ließen sie bei den Aufmärschen ihrer stolzen Prinzen- und Ehrengarden an Stelle eines klaren Befehles die sehr menschliche Aufforderung hören: "Sitt esu joot un doot dat!"
Aber der Rheinländer wusste sich auch in dieser Situation zu helfen. Wenn eine politische Emanzipation auf dem geradlinigen Weg nicht möglich ist, so dachte man wohl, dann muss man es anders probieren, vor allem über die wirtschaftliche Entwicklung. Und dann stellte er sich die einfache, sehr aktuelle Frage: Was ist dazu nötig? Die zeitlose Antwort lautete: Förderung der Leistungen im Bildungsbereich! Und so stellen wir heute fest, dass vor rund 150 Jahren geradezu eine Welle von Gründungen höherer Schulen das Rheinland erfasste: Hersel, Euskirchen und Rheinbach wollten fast gleichzeitig jeweils eine höhere Schule gründen. Dieses Rheinbach, ein abgeschiedenes Landstädtchen am Rande der Eifel, war ein nach heutigen Maßstaben geradezu winziger Ort mit nicht einmal 3000 Einwohnern, etwas kleiner als Wormersdorf heute.
Und da der preußische Staat immer sehr tolerant war, wenn es um Eigeninitiativen ging, die den Staat nichts kosteten, erteilte die preußische Regierung der Stadt Rheinbach 1852 großzügig die Genehmigung zur Gründung unserer Schule - allerdings verbunden mit der Auflage, dass vom Schulgebäude und den Einrichtungen bis hin zur Lehrerbesoldung alle Kosten dieser Bildungsstätte von den Bürgern der Stadt Rheinbach selbst getragen werden mussten. Seit dieser Zeit sind wir eine städtische Schule. Und die Entwicklung unserer Schule war immer eng verbunden mit der Entwicklung der Stadt, deren Hauptposten im Etat über mehr als 100 Jahre hinweg die Kosten für unsere Schule bildeten. Diese Opferbereitschaft der Rheinbacher Bürgerschaft wurde in Zeiten wirtschaftlicher Not oft sehr strapaziert. Und da die Stadt dann ihre letzten Reserven aus dem Vermögenshaushalt entnehmen und ihren geliebten Stadtwald teilweise abholzen musste, um durch den Holzverkauf die Lehrergehälter finanzieren zu können, brachte dies den Lehrern des Gymnasiums den nicht unbedingt freundlich gemeinten Spottnamen "Böschfresser" ein.
Ein zweites, was wir in diesem Zusammenhang oft vergessen, ist die Tatsache, dass die Menschen damals der Überzeugung waren, dass nur das gut ist, was auch etwas kostet. Und dementsprechend war der Besuch unserer Schule nur begabten, leistungswilligen und gleichzeitig von der häuslichen Herkunft her nicht gerade armen Schülern möglich. Das bis fast 1960 erhobene, zeitweise – vor allem in Krisenzeiten - sehr hohe Schulgeld, d.h. das Lehrgeld, das die Schüler als Gegenleistung für den Erwerb von Bildung zu zahlen hatten, war eine notwendige Einnahmequelle der Stadt zum Unterhalt der Schule. (Sie sehen, die heutige Diskussion um Studiengebühren ist bei Gott nichts Neues.)
Wie sah die Ordnung an der Schule in der zweiten Hälfte des 19 Jh. aus?
"Jeden Morgen versammeln sich die Schüler im Schullokale, worauf sie um 7 Uhr in die Kirche geführt werden, um dort dem heiligen Messopfer beizuwohnen. Alle 6 Wochen gehen dieselben gemeinschaftlich zur heiligen Beichte und Communion. An Sonntagen müssen alle Schüler, welche in Rheinbach wohnen, der Schulmesse um 8 Uhr, dem Hochamte um 10 Uhr und dem christlichen Unterrichte des Nachmittags beiwohnen. "
Dass die Schule eine städtische Schule war, die das Geld der Bürger verschlang, hatte zur Folge, dass die Stadt auch sehen wollte, was an unserer Schule an Wissen produziert wurde. Heute würden wir sagen, in welchem Verhältnis Input und Output zueinander stehen. Und wenn heute manchmal vor allem von Elternseite die "Öffnung der Schule nach außen" gefordert wird, dann sollte man sich Rheinbach vor 140 Jahren anschauen: Die Prüfungen am Ende des Jahres fanden für alle Klassen – also nicht nur für Abschlussklassen – vor der Öffentlichkeit statt. Zu der Prüfung wurden "alle Freunde und Gönner der Anstalt ergebenst" eingeladen. Ein entsprechendes Programm wurde vorher veröffentlicht.
Man könnte also sagen: In dieser so oft als obrigkeitsstaatlich verschrieenen Zeit fand an unserer Schule eine bis heute nicht wieder erreichte demokratische, öffentliche Kontrolle des Lehr- und Lernbetriebes statt.
Der Geist der Zeit und damit meist eng verbunden der Geist einer Schule zeigt sich immer wieder bei der Behandlung sogenannter "Disziplinarfälle". Grundlage waren meist Verstöße gegen die damalige Schulordnung. So hieß es darin: "... Die Stunden von 12 – 2 und 4 – 5 sind während des Winters als freie Erholungsstunden für die Schüler festgesetzt; ... zu anderweitigem Herausgehen bedürfen die Schüler immer der speziellen Erlaubnis und müssen also in den übrigen Stunden von dem sie besuchenden Lehrer zu Hause bei ihrer Arbeit angetroffen werden."
Zur Lehrerarbeit gehörte also auch die strikte Überwachung der festgelegten nachmittäglichen, häuslichen Arbeitszeit der Schüler durch unangekündigte Hausbesuche. Was dabei so passieren konnte, sei an einem Beispiel verdeutlicht:
Lehrer Konferenz vom 8. Juli 1876
"Am gestrigen Nachmittage, an welchem wegen der großen Hitze der Unterricht ausgesetzt wurde, verließ ... Lehrer Brüll gegen 2½ Uhr Rheinbach, um im benachbarten Ramershoven einen Besuch zu machen. Als derselbe gegen 3 Uhr auf einem durchs Feld führenden Pfade bis an den Ort gekommen war, bemerkte er auf der ziemlich frei liegenden Kegelbahn des dortigen Gasthofes Dung den Quintaner Sarter, welcher eine Zigarre rauchend auf und ab ging. Der Lehrer trat in das Haus ein und begab sich zunächst zur Kegelbahn, woselbst er außer dem genannten Sarter die Obertertianer Horst und Strobe sowie den Obersekundaner Voß antraf. Alle waren mit gefüllten Biergläsern versehen; Sarter, Strobe und Horst rauchten, letzterer aus einer Pfeife. Auf eine desfallsige Aufforderung des Lehrers hin entfernten die genannten Schüler sich sofort. Inzwischen ließ sich von einem im oberen Teil des Hauses gelegenen Zimmer her ein rohes Singen und Schreien vernehmen; der Lehrer begab sich auch dorthin, fand aber die Zimmertür verschlossen und erhielt auf wiederholtes Anklopfen keinen Einlaß. Als er dann mit energischen Worten Einlaß verlangte, überzeugten sich die im Zimmer Befindlichen von der Anwesenheit des Lehrers und nahmen mit größter Eile durch eine nach der anderen Seite hin auf die Kegelbahn und von dort in den Garten führende Tür Reißaus. In dem verlassenen, unterdes von den Wirtleuten geöffneten Zimmer fanden sich außer einem großen Kruge Bier, einigen Pfeifen und drei zurückgelassenen Röcken (Jacken) folgende Gegenstände vor: drei Kommersbücher, drei Brieftaschen, welche, wie eine sofortige nähere Durchsicht ergab, den Obersekundanern Müller und Simons sowie dem Untertertianer Klein gehörten, ... endlich lagen auf dem Tische zwei Zigarren. Sämtliche zuletzt aufgeführten Gegenstände nahm der Lehrer an sich, um sie gleich nach seiner Ankunft in Rheinbach dem Herren Rektor einzuhändigen. ...
In der Tasche von Müller wurde folgendes entdeckt: Ein Schriftstück mit ganz anstößigem, ja obszönen Inhalt, zwei ... an Müller gerichtete Briefe, wovon einer eine jeder Achtung vor der Autorität des Lehrers hohnsprechende Schilderung einer großartigen Störung des Unterrichts in einer ... in Köln gehaltenen Geschichtsstunde enthält, ... endlich noch verschiedene Lieder zwar nicht ganz anstößigen, wohl aber für die von den Schülern eingenommene Stufe durchaus unpassenden Inhalts. Kleins Tasche zeigte verschiedene von zwei jungen Mädchen aus Köln an ihn gerichtete Liebesbriefe, ein Lied – von ihm selbst geschrieben - mit einer ganz schmutzigen Strophe, ein weiteres Exemplar des bei Müller vorgefundenen größeren obszönen Schriftstückes, ein reichhaltiges Verzeichnis von Studentenliedern und endlich mehrere Liebeslieder....
Auch das vollständige Kassenbuch, das Büchlein vom Biercomment..(d.h. von den Regeln, wie man zu saufen habe) legte der Herr Rektor dem Lehrerkollegium zur Einsichtnahme vor."
Es folgt die Vernehmung der Schüler vor der Konferenz. Dann ...
"... schritt die Konferenz zur Beratung betreffs des Maßes der zu verhängenden Strafe. Man ging von der doppelten Erwägung aus zunächst, dass über die Existenz einer wirklichen, vollständig organisierten Verbindung kein Zweifel mehr obwalten könne und dass der Untertertianer Klein, welcher früher wiederholt zu schweren Klagen Anlaß gegeben hat, einen geradezu sittlich verderblichen Einfluß auf seine Mitschüler ausübe, ...
Das Resultat der eingehenden Beratung lautet wie folgt: Klein ist von heute ab von der Anstalt ausgewiesen. Müller erhält eine vierstündige Carcerstrafe mit dem consilium abeundi. …" (d.h. der dringenden Empfehlung, die Schule zu verlassen.)
Es ist schon bemerkenswert: Rheinbacher Zehntklässler und noch Jüngere - regelrechte Landpomeranzen - imitieren in einer Kneipe in Ramershoven das idealisierte Leben von Verbindungsstudenten in den Universitätsstädten.
Neben dem Alkohol- und Tabakkonsum ( heute würde man politisch korrekt wohl von Drogenproblemen oder vom Komasaufen sprechen) sind es aber auch immer wieder bestimmte Verhaltensweisen von Schülern, die die Lehrerschaft als Wahrer von Disziplin und Moral und zur Bändigung jugendlichen Übermutes an den Konferenztisch gerufen haben.
2.4. 1887 Lehrerkonferenz, Vorsitz Dr. Schlünkes
"... Es war bekannt geworden, daß einige Schüler am Abend des dritten April gegen 9 Uhr auf der Straße einen groben Unfug durch lautes Lärmen, Singen etc. verübt hatten. Nach den hiesigen Schulgesetzen ist ein Verweilen der Schüler außerhalb des Hauses bei Eintritt der Dunkelheit nicht gestattet.
... Es war den Lehrern zu Ohren gekommen, daß Veling ... mit einem ... jungen Mädchen ein höchst unpassendes Verhältnis unterhalte... Da Veling sich... obgleich er noch am Morgen desselben Tages zur Heiligen Communion gegangen, nicht gescheut hatte, an diesem Unfuge sich zu beteiligen und sich bis gegen 10½ Uhr außerhalb seiner Wohnung herum zu treiben, so beschloß die Konferenz, da auch sein ganzes Verhalten als ein für seine Mitschüler schädliches angesehen wurde, denselben von der Anstalt zu entfernen... "
Was sich insgesamt an diesen Beschlüssen der Lehrerkonferenzen in den ersten Jahrzehnten des Bestehens unserer Schule zeigt, ist die Tatsache, dass die Schulordnung nicht nur formuliert sondern auch durchgesetzt wurde.
Wie sahen Schüler um die Jahrhundertwende "Schule"? Und in diesem Zusammenhang die einfache Frage: Wie viel hat sich eigentlich in den letzten 100 Jahren an der Sichtweise und Charakterisierung der Lehrer durch die jeweiligen Schüler verändert? Sind die Lehrertypen – die Pädagogen, die Erzähler, die Tyrannen, die Gerechten – sind diese Typen wirklich zeitlos?
Ich zitiere aus Erinnerungen ehemaliger Rheinbacher Schüler aus der Zeit um 1900:
"... Direktor des Progymnasiums war Dr. Schlünkes, ein Geistlicher. Er war nach meinem Dafürhalten ein tüchtiger, gerechter, gütiger Pädagoge, der das Wohl seiner Schüler im Auge hatte.... Auf der U-Tertia hatten wir den Mathematiklehrer Tirtey, der bei den Schülern verhasst war. Er wurde von den Schülern "Satan" genannt. Das besagt genug. Es hieß, er habe zu Hause einen Hausdrachen und infolgedessen ließe er seine häusliche Unzufriedenheit an den Schülern aus.... Sein Nachfolger war Oberlehrer Alfons Gutt, -genannt 'Iwo', das gerade Gegenteil, gerecht und gut. Wenn er seine weitschweifigen mathematischen Ableitungen aus dem Stegreif an die Tafel produzierte und auf seine Zwischenfragen falsche Antworten aus der Klasse erhielt, konstatierte er dies mit "I wo" und bekräftigte dies mit einer weiteren stereotypen Feststellung: "Es ist zum Verzagen!" ... Sein Repertoire reichte von der niederen bis weit hinauf zur höheren Mathematik. Nur konnten wir zu seinen Füßen seinen Höhenflügen geistig nicht folgen. Dem Weingeist war er noch weniger abhold als sein Kollege Dr.Franzen, genannt Macksch... Der hatte eine Frau aus einer Rheinbacher Weinhandlung und soll gerne einen guten Tropfen getrunken haben. Kein Wunder... Böse Zungen wollten sogar davon wissen, daß nach dem ersten Weltkrieg im Physikalischen Cabinett (in der naturwissenschaftlichen Sammlung) sämtliche unter reinem Alkohol aufbewahrten Präparate der Verwesung anheim gefallen seien, weil einer zu oft daran gerochen habe...
Ein Jahr lang auf Obertertia hatten wir ... Professor Schöttler, genannt "Ühm" in Griechisch. Er hielt sich nicht immer streng an den Lehrplan und glaubte, den Schülern vieles vom praktischen Leben beibringen zu müssen. Dabei kam manchmal das Griechische etwas zu kurz. Das war den Schülern natürlich lieb und sie suchten ... durch entsprechende Fragen zu veranlassen, dass "Ühm" darauf einginge. Später musste dann der Lehrstoff im Eiltempo nachgeholt werden..."
Es dauerte mehr als 50 Jahre, bis sich nach der Jahrhundertwende aus der Höheren Lehranstalt, dem Progymnasium das "Städtischen Gymnasium" entwickelte. 1912 wurde das erste Abitur, das zur unmittelbaren Aufnahme des Studiums berechtigte, abgenommen. Erst auf Grund des günstigen Ergebnisses dieser Prüfung, bei der allen 27 Oberprimanern die Reife zugestanden wurde, sprach der preußische "Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten" die endgültige Anerkennung der Schule als Gymnasiums aus.
Allerdings hatte diese Genehmigung bis zuletzt auf des Messers Schneide gestanden. Denn der die Fächer Deutsch und Geschichte unterrichtende Lehrer hatte seine Schüler im Fach Geschichte so gut auf den Abituraufsatz in Deutsch vorbereitet, dass sich alle 27 Schüler einheitlich für das Thema über Friedrich den Großen entschieden, obwohl drei Themen zur Auswahl standen! Die offensichtlich getürkten Deutscharbeiten führten zu deutlichen Ermahnungen durch die Aufsichtsbehörde. Die geplante Anerkennung unserer Schule als Gymnasium wurde dennoch nicht ausgesetzt.
Es ist also nichts Ungewöhnliches, sondern etwas in der Tradition unserer Schule stehendes, wenn bei Ihnen in der Abiturprüfung einige Kollegen dezente Hinweise auf die von ihnen eingereichten Abiturvorschläge gemacht oder vor der Mündlichen Prüfung die eine oder andere Bemerkung fallen gelassen haben. Ob das nunmehrige Zentralabitur die endgültige, unmenschliche Abwendung von dieser guten Tradition sein wird, bleibt noch abzuwarten.
Unsere Schule befand sich seit 1910 in einem nicht nur für die damalige Zeit wunderschönen, neuen Gebäude, dem alten Gymnasium vor dem Voigtstor, das später von der Firma Nelles aus Meckenheim zum Bekleidungsgeschäft umgebaut und als "Nellesbau" bezeichnet wurde und heute, nach einem weiteren Umbau und dem Abriss der alten Turnhalle im Jahre 2009, "Pallotti-Carré" heißt.
Leiter der Schule war seit 1903 der nach Rheinbach geholte Dr.Laurenz Nießen, genannt "Zeus". Wenn Schüler den Leiter ihrer Anstalt "Zeus" nennen, so entsteht vor den Augen eines Außenstehenden das Bild einer alles beherrschenden Persönlichkeit.
Nießen war ein solcher Mann, der rein äußerlich wohl dem Direktor in Heinz Rühmanns bekannter Feuerzangenbowle sehr ähnlich sah. Neben den alten Sprachen betätigte sich dieser tiefreligiöse Mann als Dichter, vor allem aber auch als Maler. Ein ehemaliger Schüler charakterisierte ihn im Abstand von fast vierzig Jahren folgendermaßen:
"Hoch erhaben über jeder Kritik und jeder Spöttelei stand einer. Das war unser Zeus! Sein ganzer Habitus war der eines Erziehers und wissenschaftlichen Könners κατ'εξοχήν (par excellence). Ich sehe ihn noch heute, wie er nach getaner Arbeit die Penne verließ und seinen heimischen Penaten zuschritt mit der Würde eines römischen Konsuls oder eines griechischen Philosophen. Seinen Schlapphut trug er in unnachahmlicher Weise. Sein schwarzes Cape legte er so um seine Schultern, daß der eine oder andere wohl denken mochte: Die Toga lässig umgeworfen, so schreitet er daher. Doch erst einmal seine Horazstunden! Wenn er auf dem Wege von seinem Zimmer zur Klasse, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, anfing zu extemporieren, so schien die Stunde bei ihm in seinem Zimmer zu beginnen und setzte sich fort über den Flur in die Klasse hinein, ganz ohne Textbuch. Jede Ode wurde erst wörtlich, dann frei und schließlich von ihm selbst in Versen oder Reimen übersetzt. Die freie und in Verse gesetzte Übersetzung war ein Hochgenuß."
Auf die Zeit des ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik und der Nazizeit will ich jetzt nicht weiter eingehen, das kann man bei entsprechendem Interesse in verschiedenen Publikationen* nachlesen.
[* Die Publikationen von Dr. Mies sind im CMZ-Verlag in Rheinbach erschienen.]
Herausgreifen möchte ich vielmehr einige Aspekte aus neuerer Zeit.
Ab Mitte der 60er Jahr breitete sich die von den Universitäten ausgehende politische Unruhe allmählich auch auf die Gymnasien aus. Neue Lehrer mit ihren von der Frankfurter Schule geprägten Vorstellungen wurden unserem Gymnasium zugewiesen. Ihre Ideen fanden bei einem Teil der Jungen begeisterte Anhänger. In das Kreuzfeuer der Kritik der neu entstehenden Schülerzeitungen PET und TENDENZEN, deren Mitarbeiter 1968 u.a. auch Wolfgang Niedecken* war, gerieten in erster Linie Oberstudiendirektor Dr. Josef Werres als Schulleiter und die als "autoritär" gebrandmarkte Schule als Institution.
[* Niedecken, Kölner Künstler und Chef der späteren Musikgruppe BAP, gründete Mitte der 60er Jahre mit einigen Mitschülern die Rockband "The Troop". Niedecken wohnte im Konvikt St. Albert.(Hubert Beyer)]
"Was ist die Zerstörung unserer Schule verglichen mit ihrer Einweihung?" lautete der entsprechend provokative Aufsatz nach dem Umzug im Jahre 1967 in das moderne neue Gymnasium, das heutige Realschulgebäude hinter dem Mädchengymnasium am Soldatenfriedhof.
Ein weiterer Aufsatz trug den Titel: "Mens sana in corpore partisano". Und zur sogenannten Entlarvung der autoritären Strukturen wurden unter dem Titel: "Worte des großen Vorsitzenden" – im Bezug zu Maos kleinem rotem Buch - Zitate von Dr. Werres aus seinem Geschichtsunterricht veröffentlicht; heute sicherlich eine absolute Belanglosigkeit, die allenfalls zum Schmunzeln anregen würde, damals wurde es von der Schulleitung als eine bodenlose Unverschämtheit empfunden. Und entsprechend schroff reagierten Werres und die meisten seiner Kollegen auf derartige Provokationen, riefen dadurch aber wiederum entsprechende Schülerreaktionen auf den Plan, wie etwa in einem sogenannten "Bomben-Preis-Quiz für wissend-unwissende Schüler und solche die es bleiben wollen", in dem eine der anzukreuzenden Fragen den Spitznamen von Dr. Werres aufgriff. Sie lautete:
Was bedeutet BARRAS?: a) Hundename, b) Sauerkrautmarke, c)neue Linkspartei, d) oder ?
So hieß es unter der Rubrik "Gerüchte" in einer Schülerzeitung:
- Am SGR soll eine Ecke für Mao-Anhänger eingerichtet werden.
- Am SGR soll ein liberales Klima herrschen.
- Es soll am SGR Klassen geben, die immer noch nicht gehorchen.
- Wegen der wachsenden Zahl der Mao-Anhänger soll der Religionsunterricht um eine Stunde erweitert werden.
Neben solchen schulspezifischen Fragen sind es die großen ideologischen Fragen der APO, die von den Schülerzeitungen aufgegriffen werden:
- In memoriam Che Guevara
- Marx und die Sache der Freiheit
- Vietnam
- Demokratie als Ideologie
- Das falsche Bewusstsein usw.
Die Herausgeber der Schülerzeitung engagierten sich neben den schulischen und ideologischen Fragen auch im Bereich der beginnenden sexuellen Revolution und traten für die Änderung des Paragraphen 218 und für die damals noch weitgehend verpönte Pille ein.
"Nehmt die Pille" hieß es, und: "Das Sozialreferat des ASTA in Bonn hat Adressen von Ärzten, die Antibabypillen verschreiben und Tipps über Abtreihungen geben." - in der damaligen Zeit geradezu ungeheuerliche Äußerungen in unserer katholisch geprägten Kleinstadt.
Ordnungsmaßnahmen gegen Schüler und erheblicher Druck seitens der Schulleitung auf die einzelnen sie unterstützenden Lehrer waren die Folge. So wurde der Verbindungslehrer zu Schülermitverwaltung, der Musiklehrer Peter Virnich* von Dr. Werres schriftlich aufgefordert, über das Wochenende einen ausführlichen schriftlichen Bericht zu erstellen zu den Fragen:
1. Was ist Ihnen vor dem Erscheinen von dem Inhalt (der Schülerzeitung) zur Kenntnis gelangt?
2. Inwieweit gehen die Ausführungen über politische und schulische Fragen auf den Einfluß zurück, den Sie innerhalb oder außerhalb des Unterrichts auf die Schüler ausüben?
[* Virnich wurde bald darauf Leiter der Gesamtschule Mülheim/Ruhr. (Hubert Beyer)],
Und als dann von den aufmüpfigen linken Schülern auch noch eine sogenannte Lenin-Feier in der Stadthalle geplant wurde, schaltete sich auf eine entsprechende Anzeige eines empörten Vaters der staatliche Verfassungsschutz ein. Ein politischer Prozess gegen die Verantwortlichen vor dem Bonner Landgericht wurde eingeleitet.
Dass vor allem bürgerlich geprägte, besorgte Eltern ihre Söhne nun verstärkt auf dem erst wenige Jahre vorher als Ersatzschule anerkannten Pallotti-Kolleg anmeldeten war eine ganz natürliche Folge.
OStD Josef Werres wurde im Sommer 1972 mit Erreichen der Altersgrenze pensioniert und sein Stellvertreter Edmund Bischof übernahm für ein halbes Jahr kommissarisch die Schulleitung. Nun schien für OStR Wilhelm Neuhalfen der Weg als Nachfolger frei zu sein. Neuhalfen, der als Stadtrat auch Vorsitzender des Schulausschusses der Stadt war, hatte entscheidend den Neubau des Gymnasiums hinter dem Soldatenfriedhof, an der Straße Zu den Fichten initiiert und ihn verantwortet.
Aber es kam anders: Bei einer sich in die Nacht hineinziehenden, von den Fraktionen freigegebenen Wahl des neuen Schulleiters durch den Rat der Stadt Rheinbach setzte sich zur Überraschung vieler - auch der meisten damaligen Lehrer, die sich für ihren Kollegen Neuhalfen verwendet hatten - der erst 36jährige, aus Euskirchen kommende Mathematiker Karl Schlesinger durch. Neuhalfen und Schlesinger waren beide Mitglieder der CDU. Schlesinger schien wohl für die meisten Ratsmitglieder die Gewähr für die notwendige Anpassung der Schule an die gewandelten Zeitumstände zu bieten. Sein Motto war ein Zitat des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: "In einer sich weiterentwickelnden Welt kann nur derjenige bewahren, der zu verändern bereit ist. Wer nichts verändert, wird auch das verlieren, was er bewahren will!".
Unter diesem Motto änderte sich in den folgenden Jahren wirklich vieles an unserer Schule. Um 1970 hatten manche Schüler von radikalen Gesellschaftsveränderungen, ja von Revolution geträumt. Nur vier Jahre später kam in der Tat eine Revolution. Aber sie betraf nicht die ganze Gesellschaft, sie betraf lediglich unsere Schule. Und ihr lag keine ministerielle Verordnung, wie die Einführung der Oberstufenreform, zu Grunde, und sie orientierte sich auch nicht an den Parolen von Lenin und Mao, von Adorno oder Habermas. Diese von Karl Schlesinger ausgelöste Revolution hieß Kerstin, Dixi, Nicole und Julie, Annette, Claudia, Barbara usw..
Es waren emanzipierte, nicht gerade schüchterne junge Damen, die aus dem – um den Schülerjargon zu verwenden – "Nonnenbunker" kamen und die den Schritt in die von Schlesinger geöffnete, noch ganz männlich geprägte Welt des Gymnasiums wagten; zunächst tropfenweise, dann in hellen Scharen. Als Quereinsteigerinnen wirbelten sie zunächst allein durch ihr Dasein, mehr jedoch noch durch ihr Sosein die über 130 Jahre gefestigte gymnasiale Welt durcheinander.
Durch das Fräulein-Wunder ausgelöst zerbrachen unter den Hormonstößen alte Männerfreundschaften, wurden langjährige Loyalitäten aufgekündigt, wurde die heile Männerwelt zu Grabe getragen. Das Balzen entwickelte sich zur Schulsportart Nummer eins.
Im äußerlichen Erscheinungsbild setzte sich die weibliche Ästhetik gegen den oft ungewaschen riechenden, männlichen Geist der Revolution durch.
Die genetische Neuzusammensetzung der Schülerschaft soll aber auch auf das Lehrerkollegium nicht ohne Auswirkungen geblieben sein. Und es hieße wohl auch Übermenschliches zu fordern, wollte man angesichts dieser Veränderungen von den alten und den neu eingestellten Kollegen die in der Theorie so sehr gepriesene Objektivität eines Lehrers unbedingt erwarten. Auch in einem anderen Bereich lockerten sich traditionelle Verhaltensweisen mancher Lehrer. Bekam doch angesichts laufender Neueinstellungen junger Kolleginnen der jährliche Betriebsausflug für manch älteren Kollegen einen völlig neuen Stellenwert.
Die Antwort auf die sogenannte Bildungskatastrophe der 60er Jahre - damals hatten wir angeblich viel zu wenig Gymnasiasten, heute haben wir eine Bildungskatastrophe mit vielen Gymnasiasten, die angeblich über viel zu wenig Wissen verfügen – führte in wenigen Jahren zu einer Verdoppelung der Schülerzahl am SGR, bei der sich nach kurzer Zeit schon zahlenmäßig Jungen und Mädchen in etwa die Waage hielten und bis heute halten.
Die Folge war, dass schon 1976, nur 10 Jahre nach dem ersten Gebäudewechsel unserer Schule, der zweite Umzug anstand, diesmal in das Gebäude an der Königsberger Straße, das wir heute noch als "Das Städtische" bezeichnen. Mit rund 1000 Schülerinnen und Schülern ist dieses Gymnasium heute genauso wie vor 50, 100 oder 150 Jahren ein getreues Spiegelbild unserer Gesellschaft.
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Der Roman spielt Ende der 60er Jahre in Rheinbach, im Wald, auf der Kirmes, bei den Pallottinern und im "Kasten" (Konvikt St. Albert).
Schumacher, Jahrgang 1952, Germanist und Sportlehrer, ist ehemaliger Schüler unserer Schule. Er gehörte damals zur Rockband von Wolfgang Niedecken. (Hubert Beyer)