Latein
Informationen zur dritten Fremdsprache
von Hubert Beyer
Inhaltsübersicht:
Seite
2: Warum soll man Latein lernen?
Das Latinum
Seite 3: Fachübergreifende Ziele und Leistungen eines modernen Lateinunterrichts
Seiten 4-5: Presseartikel
Latein
in England und den USA
Mit Latein studierfähig
Vom Nutzen der "toten Sprachen"
Von Asterix zu Cicero in 10 Wochen
Seiten: 6-10: Pro
Latein - Meinungen bekannter Persönlichkeiten
Annette
Schavan
Gudrun Vögler
Helmut G. Walther
Friedrich Maier
Martin Wolter
Erklärung der Kultusministerkonferenz vom 22. September 2005:
Mit der Zuerkennung des Latinums wird die Fähigkeit bestätigt, lateinische Originaltexte im sprachlichen Schwierigkeitsgrad inhaltlich anspruchsvollerer Stellen (bezogen auf Bereiche der politischen Rede, der Philosophie und der Historiographie) in Inhalt, Aufbau und Aussage zu erfassen. Dieses Verständnis ist durch eine sachlich richtige Übersetzung in angemessenem Deutsch, ggf. zusätzlich durch eine vertiefende Interpretation nachzuweisen. Hierzu werden Sicherheit in der für die Texterschließung notwendigen Formenlehre und Syntax, ein ausreichender Wortschatz und die erforderlichen Kenntnisse aus den Bereichen römische Politik, Geschichte, Philosophie und Literatur vorausgesetzt.
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Handreichungen der
Fachschaft Latein zur Wahl
des Differenzierungsfaches Latein in der Klasse 8
Warum soll man LATEIN lernen?
1. Latein - ein beispielhaftes Sprach- und Denksystem
a) Der Lateinunterricht legt besonderen Wert auf die Betrachtung der Sprache und der Sprachstrukturen. Die Beschäftigung mit Latein führt also zum Verständnis von Sprache überhaupt und vertieft damit auch die Einsicht in unsere Muttersprache.
b) Bei den Übersetzungsübungen vom Lateinischen ins Deutsche werden dem Schüler stilistische Feinheiten und eine Erweiterung des Wortschatzes der deutschen Sprache vermittelt. Kreativität und sprachliche Gewandtheit werden gefördert. In den modernen Fremdsprachen (Englisch, Französisch usw.) kommt es in der Regel auf schnelle Kommunikation an, d.h. typische Sprachstrukturen werden weitgehend automatisiert, um jederzeit sofort im Hirn abgerufen werden zu können. Der Lateinunterricht opfert demgegenüber der Suche nach der richtigen Übersetzung viel mehr Zeit und legt viel mehr Wert auf Genauigkeit.
c) Latein wird allgemein als sehr logisch aufgebaute Sprache bezeichnet, an der folgerichtiges Argumentieren studiert werden kann. Die Arbeit mit Latein erzieht zu Konzentration und Disziplin, zu planvollem und konsequentem Vorgehen.
Daraus kann grob gefolgert werden: Latein kann die Ausdrucksweise und damit auch Noten im deutschen Aufsatz verbessern. Beim Übersetzen werden Denkschritte geübt, die als geistiges Training und damit als gute Vorbereitung für späteres berufliches Arbeiten dienen.
d) Sehr früh schon werden die Schüler an Fragestellungen herangeführt, die sie zum Nachdenken über ihre persönliche Lebensgestaltung und ihre Wertvorstellungen anregen. Ihr Blick wird z.B. bei Caesar auf die Rechtfertigung für politisches Handeln gelenkt, bei Cicero oder Sallust auf die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und auf die Frage nach der besten Staatsform, bei Catull und Ovid auf die Bewältigung menschlicher Grunderfahrungen wie Liebe und Tod.
2. Latein - Grundsprache
a) Etwa 300 Millionen Menschen sprechen eine romanische Sprache. Die Mutter aller romanischen Sprachen ist das Lateinische. Latein öffnet also den Zugang zu den modernen Fremdsprachen, auch zum Englischen, denn ein großer Teil des Vokabulars der englischen Sprache stammt aus dem Lateinischen (ca. 60 %), besonders das amerikanische Englisch bevorzugt im modernen Vokabular Wörter, die aus der lateinischen Wurzel stammen.
b) Lateinunterricht erleichtert das Erlernen von Portugiesisch, Spanisch, Italienisch, Rumänisch ungemein. Es ist z.B. viel leichter, vom Lateinischen aus das Spanische zu erschließen, als vom Französischen aus das Spanische zu verstehen.
Kleiner Hinweis: An unserer Schule wird in der Oberstufe Spanisch angeboten. Derjenige, der vielleicht vorhat, später Spanisch zu lernen, sollte jetzt als Vorbereitung darauf schon Latein wählen
c) Lateinkenntnisse helfen, den größten Teil der deutschen Fremdwörter und der wissenschaftlichen und politischen Ausdrücke mit lateinischen Wurzeln auf Anhieb zu verstehen und richtig anzuwenden. Ganz banal: Wer Latein kann, braucht nicht für jedes Fremdwort im Lexikon die Bedeutung zu suchen und merkt oft eher, wie wenig Inhalt hinter den großspurigen Schlagwörtern der Webebranche und hinter politischen Parolen steckt.
3. Latein - Erleichterung beim Universitätsstudium
Viele Universitäten verlangen für eine große Anzahl von Studienfächern den Nachweis des Latinums. Wer also nach dem Abitur studieren will, sollte auf jeden Fall Latein lernen, um sich möglichst viele Studienchancen offenzuhalten.
Ein LATINUM gemäß Beschluss der Kultusministerkonferenz, das frühere "Große Latinum", wird erlangt durch kontinuierlichen, vierjährigen Lateinunterricht (von Klasse 8 bis Klasse 11), wenn die Endnote mindestens ausreichend ist.
4. Latein - verborgener Nutzen
Der Nutzen des Lateinischen ist vielleicht nicht so einsichtig und offensichtlich wie der einer modernen Fremdsprache. Aber man kann durchaus behaupten: Das durch das Lateinische Erlernte wirkt, ohne dass man es merkt, gleichsam im Verborgenen. Man kann es nicht messen, aber man ahnt die Vorteile.
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Fachübergreifende Ziele und Leistungen eines modernen Lateinunterrichts
1. Umfassendes Wissen und Ordnung der Vorstellungswelt
(ORIENTIERUNGSWISSEN)
1.1 Aneignen von sprachlichem Wissen
a) Steigerung der muttersprachlichen Kompetenz
b) Förderung der Sicherheit in fremder Terminologie
c) Erhöhte Disponibilität zum Erlernen moderner Sprachen Europas
1.2 Vertrautmachen mit Literaturwissen
a) Kennenlernen von anerkannten Stilmustern und Literaturformen
b) Erfahren von standardisierten Figuren, Motiven, Themen der europäischen Literatur
c) Erfassen von mythologisch-symbolischen Grundmustern im europäischen Denken
2. Abstraktion und Theoriebildung – Erfassen komplexer Zusammenhänge
(KOMPLEXES DENKEN)
2.1 Annäherung an die Sprache als einem Modell
a) Linguistischer Umgang mit Sprache an ihren Aufbauelementen
b) Sprachvergleich als Voraussetzung von Sprachenverstehen und Völkerverständigung
c) Erfahren der Grenzen des Übersetzens als Beleg für die unaufhebbare Identität der Völker
2.2 Einblick in den systematischen Aufbau einer Sprache
a) Erfassen des funktionalen Vernetzungssystems von Sprache
b) Erkennen der Zusammenhänge der im TEXT verlebendigten Sprache
c) Bewusstwerden des Zusammenhangs von Sprache und Denken
3. Erfahrung der Kultur Europas - Prinzipielle Fragen
(OFFENHEIT FÜR SINNFRAGEN)
3.1 Kennenlernen der Wurzeln Europas
a) Begreifen der eigenen Kultur als Ergebnis einer langen Tradition
b) Einsicht in die identitätsstiftende Kraft der antik-römischen Kultur
c) Vertrautwerden mit dem europäischen Paradigma als Voraussetzung für den multikulturellen Dialog
3.2. Erkennen des Ursprungs von Kultur
a)
Einsicht in das uralte Bemühen des Menschen um Erkenntnis seiner Herkunft und
um
Verbesserung seines Standards für die Zukunft
b) Konfrontation mit dem intellektuellen Engagement des Menschen, den Dingen auf den Grund zu gehen
c) Einblick in zeitlos gegebene Möglichkeiten, die Frage nach Sinn und Orientierung in der Welt zu lösen
4. Existenzprobleme der Menschheit - Fähigkeit und Bereitschaft zu Verantwortung
(WERTBEWUSSTSEIN und VERANTWORTLICHKEIT)
4.1 Bewusstwerden der Existenzfragen der Menschheit
a) Auseinandersetzung mit den eher zeitlosen Problemen wie Krieg und Frieden, Ringen um die beste Staatsform
b) Auseinandersetzen mit den mehr aktuellen und zukunftsbezogenen Problemen wie Natur und Umwelt, Wort und Bild, Freizeit und Beruf
c) Konfrontation mit philosophisch diskutierten Existenzfragen
4.2 Einüben in Verantwortlichkeit
a)
Erfahren von Krisensituationen der römischen und von Rom beeinflussten
europäischen
Geschichte, in denen verantwortliches Handeln gefordert war
b) Aufsuchen von Analogien der Verantwortungssituationen in Geschichte und Gegenwart
c) Einübungen in Verantwortlichkeit in konkreten Unterrichtsprojekten im Lateinunterricht oder des Lateinunterrichts in Zusammenarbeit mit anderen Fächern
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Pro Latein - Meinungen
Latein in England und in den USA
(Entnommen aus "Praxis des neusprachlichen Unterrichts", Heft 1/1997, S. 108)
Stimmt es, dass das Lateinische in den Schulen Großbritanniens nach vielen Jahren der Vernachlässigung wieder an Popularität gewinnt? Wenn ja – wie ist das zu erklären?
Dreißig Jahre lang stand Latein nur auf wenigen Stundenplänen in englischen Schulen. Die Joint Association of Classical Teachers (JACT) hat in einer Untersuchung festgestellt, dass man in den meisten staatlichen Schulen Latein überhaupt nicht mehr lernen konnte. Die Zahl der Schüler, die auf dem Niveau des O-level Latein gewählt hatten, ging von 53000 im Jahre 1964 auf 12800 im Jahre 1994 zurück. Das soll jetzt anders werden, nachdem Latein bei Grundschulkindern offensichtlich immer beliebter wird. Studien haben ergeben, dass britische Schülerinnen und Schüler, die Latein lernen, die Grammatik ihrer Muttersprache besser
verstehen und auch in Mathematik gute Noten erhalten. Während einer Konferenz an der Universität von Cambrigde im vergangenen Jahr sagte eine Lehrerin, die Siebenjährigen Latein beibringt: "The children love it. It helps them understand their own language and gives them a wonderful insight into classical history, too" (nach The Sunday Times, 31. März 1996, S.l, in einem Artikel mit der Überschrift "Maths is all Greek to pupils without Latin"). Die JACT plant, das Lateinische zunächst an bis zu 400 Schulen wieder einzuführen. Ein wichtiger Grund dafür sind Erfahrungen, die in Amerika mit lern-schwachen und sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern gemacht werden konnten. In Indianapolis erhielten Zwölfjährige fünf Monate lang jeden Tag 30 Mi-nuten lang Lateinunterricht. Danach waren sie Schülern ohne solche Lateinstunden ein Jahr im Lesen voraus, sieben Monate im Rechnen und fünf Monate in den Naturwissenschaften. Heute wird in allen Primarschulen des amerikanischen Bundesstaats Indiana Latein angeboten.
Mit Latein studierfähig
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Januar 2004, Brief an die Redaktion)
Zu Ihren Artikeln "Mehr Lateinschüler" und "Latein ohne Höhepunkt" (F.A.Z. vom 8. Januar): Auch wenn die Zahl der Schüler, die Latein als erste Fremdsprache wählen, wieder leicht ansteigt, ist die "Lateinarmut" an bundesdeutschen Gymnasien schlichtweg eine Katastrophe, weil Abiturienten ohne Lateinkenntnisse faktisch nicht über eine allgemeine, sondern nur über eine begrenzte Hoch-schulreife verfügen. Deutsch, Latein und Mathematik sind die drei wichtigsten gymnasialen Kernfächer, welche eine allgemeine Studierfähigkeit an deutschsprachigen Universitäten garantieren. Ohne ausreichende mathematische Grundkenntnisse bleibt Abiturienten ein naturwissenschaftliches Studium im Regelfall verschlossen, und ohne ausreichende Lateinkenntnisse werden sie es in vielen geisteswissenschaftlichen Studiengängen vielleicht zu einem formalen Abschluß, nicht aber zu einer sachadäquaten Durchdringung des jeweiligen Faches bringen. Gerade für die beliebten neuphilologischen Studiengänge sind solide Lateinkenntnisse unverzichtbar, auch wenn einige Außenseiter, um deren eigene Lateinkenntnisse es oft selbst nicht sonderlich gut bestellt ist, dies hin und wieder zu bestreiten versuchen.
Eltern und Kindern wird von utilitarismusfixierten Bildungsideologen beharrlich verschwiegen, daß grundständiges Lateinlernen nicht nur einen hohen Bildungswert, sondern auch einen entscheidenden Nutzen hat: Es ist wesentliche Voraussetzung für das Erlangen einer allgemeinen Studierfähigkeit im Bereich der Geisteswissenschaften, insbesondere aller philologischen und historischen Disziplinen. Insofern darf Latein keineswegs als Konkurrenzfach zu modernen Fremdsprachen gesehen werden, sondern sollte als unverzichtbares Fundament europäisch-abendländischer Bildung und als Kernfach gymnasialen Unterrichts gelten. Es gibt bekanntlich sehr wohl eine Korrelation zwischen Studienabbruchsquoten beziehungsweise Studienerfolg und der Sprachenfolge der zuvor von den Studenten besuchten Gymnasien: Während viele "lateinlose" Gesamtschulabsolventen ihr Studium vor einem ersten Examen aufgeben, ist die Erfolgsquote der Absolventen humanistischer Gymnasien, die Latein (und auch Altgriechisch) gelernt haben, konstant außerordentlich hoch. Und dabei lernen diejenigen Schüler, welche sich für die beiden alten Sprachen entschieden haben, in der Regel zusätzlich noch mindestens zwei moderne Fremdsprachen. Wären die Politiker mutig genug, aus den bekannten Fakten die Konsequenzen zu ziehen, so müßten sie Latein zum Pflichtfach an allen Schulen machen, welche zu einer allgemeinen Hochschulreife führen sollen.
Fazit: Wer es in Kauf nehmen will, die spätere Studierfähigkeit seiner Kinder entscheidend einzuschränken, der soll sie eben kein Latein lernen lassen. Für ein Sportstudium reicht auch ein lateinloses Abschlußzeugnis. Informierte Eltern werden dagegen sicherlich dafür Sorge tragen, daß ihre Kinder während der Gymnasialzeit solide Lateinkenntnisse sowie das Latinum erwerben und sich so alle späteren Studienmöglichkeiten offenhalten.
Professor Dr. Axel Schönberger, Bremen
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Pro Latein - Meinungen
Vom Nutzen der "toten Sprachen"
Professor Dr. Oliver Primavesi, München, Leibniz-Preisträger des Jahres 2007
(Auszüge aus einem Interview des General-Anzeigers Bonn, Journal vom 7. April 2007)
General-Anzeiger: Haben Sie jemals den Ausdruck "tote Sprachen" verwendet, wenn die Rede von Latein oder Altgriechisch war?
PRIMAVESI: Nein. Sprachliche Kommunikation ist nicht darauf beschränkt, beim Bäcker ein Croissant zu bestellen oder am Fernsehgerät einer Daily-Soap zu lauschen. Es gibt auch literarische Kommunikation, die auf der Auseinandersetzung mit Texten basiert. [...]
GA: Würden sie Schülern empfehlen, Latein und Griechisch zu lernen?
PRIMAVESI: Es gibt einen Aberglauben, der unsere Schulen seit den Schulreformen Wilhelms des II. immer weiter in eine mediokre Kurzatmigkeit treibt. Dieser Aberglaube besteht in der Annahme, dass Jugendlichen in der Schule unmittelbar die Fertigkeiten andressiert und die Fakten eingetrichtert werden könnten, die sie später im Berufsleben benötigen. In Wahrheit bedarf der Jugendliche, der später einmal etwas leisten soll, zunächst der ruhigen Einübung methodischer Trainingsverfahren und der Gewöhnung an ihre disziplinierte, unablässige Anwendung. Dieses Kriterium legt die strikte Konzentration auf wenige Fächer nahe. Das sind – neben Sport, Instrumentalspiel und Mathematik – vor allem die alten Sprachen, deren aktive schriftliche Beherrschung aufgrund ihrer strukturellen Differenz gegenüber den europäischen Gegenwartssprachen nur im Wege immanenter Sprachreflexion erreicht werden kann und die sich deshalb dem Modus des Plapperns radikal entziehen.
GA: Halten Sie die Frage nach dem Nutzen der Geisteswissenschaften für die Gesellschaft überhaupt für berechtigt oder gar zulässig?
PRIMAVESI: Nicht nur berechtigt oder zulässig, sondern unabweisbar. Die Diskussion dieser Frage kann allerdings nur dann über Gemeinplätze hinauskommen, wenn die Gesellschaft bereit ist, ihre eigene kulturelle Verfassung kritisch zu beleuchten und in dieses nicht sehr erfreuliche Spiegelbild zu schauen. Dann ergibt sich ein Kriterium für den Nutzen von selbst. Als nützlich erweist sich dann jene Geisteswissenschaft, deren Methoden und Ergebnisse zu einer gesellschaftlichen Kultur der Anstrengung, der Genauigkeit, der Subtilität, der rationalen Bewältigung von Komplexität beitragen.
Von Asterix zu Cicero in zehn Wochen
(UniSPIEGEL 6/2005 - 24.Januar 2006, http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,388681,00.html" \t "_blank")
Rund 120 Studienfächer schicken Studenten zum Martyrium in die altrömische Hölle. Wer Latein in der Schule nicht gelernt hat, muss nachsitzen - oft in Crashkursen. Dort interessiert sich niemand für die tote Sprache, alle wollen nur eins: den Schein.
Lisa hat keine Augen für den Sommer. Sie sitzt in einem weißen Seminarraum und starrt ein Blatt an, auf dem sie einen Haufen Wörter in unterschiedlichen Farben markiert hat. Rot, blau, gelb. Lisa versucht zu übersetzen, so wie die 18 Studenten an den Tischen neben ihr. Die Studenten unterhalten sich nicht. Sie helfen einander nicht. Sie wahren eine fiebrige Stille. Nur ab und an stöhnt einer auf, schnaubt durch die Nase und murmelt "Oh, Scheiße". Die Menschen in dem weißen Raum machen gerade ihr Latinum nach. [...]
Lena ärgert vor allem, dass sie in der Schule so schlecht beraten wurde. Die Hamburgerin ist Lehramtsstudentin, für Englisch und Deutsch. In der Schule entschied sie sich für Spanisch. "Mit 16 dachte ich, es macht Sinn, eine Sprache zu lernen, die man heute noch spricht. Dass Latein später an der Uni für Anglisten wichtig ist, hat mir keiner gesagt." [...]
Christine Koischwitz
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Pro Latein - Meinungen
FAZ Donnerstag, 16. April 1998, Nr. 88 / Seite 3
Tacitus in einer Welt
von Bits und Bytes
STUTTGART, 15. April. Tausende von Gymnasiasten, die sich – aus mehr oder weniger freien Stücken – für den Unterricht in lateinischer oder griechischer Sprache entschieden haben, hat schon die Frage bewegt, ob es denn sinnvoll sei, sich heute noch mit Homer, Platon, Cicero, Vergil und Tacitus zu beschäftigen. Genau diese Frage hat am Mittwoch auch die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) gestellt, als sie etwa tausend Teilnehmer am Kongress des Deutschen Altphilologenverbandes in Heidelberg begrüßte. Die Ministerin, Schirmherrin der Tagung, fügte zudem die Frage an, ob die alten Sprachen denn noch zukunftsfähig seien in einer Welt, die geprägt sei von Bits und Bytes, von Biochemie, Gentechnik und High-Tech, und dies in einem immer rascheren Wandel. Oder seien die alten Sprachen vielleicht doch mehr als die nostalgische Schwärmerei derer, die nicht von ihren humanistischen Träumen lassen könnten?
Auf diese Fragen, von denen die Altphilologen freilich wussten, dass sie mehr rhetorischer Art waren, blieb die Kultusministerin die Antwort nicht schuldig. Gerade in unserer technisierten Welt, so Frau Schavan, sei es lebensnotwendig, das Erbe der antiken Kulturen zu pflegen und zu fördern. Was sie damit meinte, machte sie mit einem Satz aus der Antigone des Sophokles deutlich: "Vieles Ungeheure lebt, doch ist nichts ungeheuerlicher als der Mensch." Die Wahrheit dieses Spruchs könne vielleicht erst unser Jahrhundert in seiner ganzen Tiefe ermessen.
Die alten Sprachen, rühmte die Kultusministerin, die unter anderem auch Philosophie studiert hat, erschlössen "das Menschliche in seiner Breite und Ambivalenz". Grundprobleme der Menschheit seien zuerst von den Griechen und Römern durchdacht und dargelegt worden, in einer klaren, oft radikalen Sprache und in Denkformen, die uns bis heute in ihren Bann zögen.
Die Antike, sagte Frau Schavan, sei "nicht irgendeine ferne fremde, bunt-exotische Welt, geeignet für Antiquare und museale Spezialisten". Der altsprachliche Unterricht sei so etwas wie ein Schlüssel für die kulturellen und geistigen Traditionen Europas. Die Antike sei das Fundament, ohne das niemand die spätere Geschichte Europas und damit die eigene Gegenwart begreife. Die Jugend müsse erfahren, dass Europa mehr sei als eine Wirtschaftseinheit.
Wer sich intensiv mit dem Erbe der Antike auseinandersetze, trug die Kultusministerin vor, leiste sich geistige Freiheit. "Er weiß", sagte Frau Schavan, "dass die bisweilen hektisch diskutierten Themen unserer Tage auch die Themen der Antike waren, und er kennt die Antworten. Das macht immun gegen manche moderne Parole."
Die Angst des SED-Funktionärs
vor humanistischer Bildung
Die Latein- und Griechischlehrer forderte die Kultusministerin auf, sich noch stärker auf die Erfordernisse der Gegenwart und Zukunft zu besinnen und sich von einer inneren Spaltung zu verabschieden, "die mit den Fragen unserer Zeit und den Fragen unserer Jugend nichts mehr zu tun hat". In einer vom Ministerium herausgegebenen Kurzfassung der Rede ist der Hinweis enthalten, im Mittelpunkt des Geschehens müsse der Schüler stehen und nicht die Grammatik. Die Kultusministerin scheint von Grammatik aber doch mehr zu halten, denn in ihrem Redemanuskrit ist dieser Satz nicht zu finden.
In Heidelberg zitierte Annette Schavan aus einem Roman der Schriftstellerin Monika Maroa, die über die Angst eines SED-Funktionärs vor humanistisch Gebildeten schrieb: "Herr Beerenbaum kannte kein Latein. Und darum hat er verboten, dass andere Latein lernten. Wer es konnte, musste ins Gefängnis. Damit alle vergessen, dass es das gibt: Latein." Das sollten sich alle Schüler merken, die über Latein meckern. Wer wird sich denn mit dem SED-Funktionär Beerenbaum auf eine Stufe stellen wollen? (bhr.)
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Pro Latein - Meinungen
Gudrun Vögler, Fulda 1996, Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes 3/96, S.144
(Beim Übersetzen im Lateinischen) festigt und erweitert das stetige Bemühen um einen angemessenen deutschen Ausdruck die muttersprachliche Kompetenz. [...] Kommunikative Sprachkompetenz vermitteln Deutsch und moderne Fremdsprachen. Sprachbewusstsein und -sensibilität erwirbt man am besten im altsprachlichen Unterricht. [...] Sensibilität für Sprache und Verstehen interkultureller Bezüge zählen aber wiederum zu den unverzichtbaren Schlüsselqualifikationen im sozialen Bereich.
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Helmut G. Walther, Dekan der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, bei einer Ansprache zum Certamen Thuringiae 1996, gefunden in Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes 3/96, S.136
Es ist kein Verharren auf antiquierten humanistischen Konzepten, wenn ich die Wahl des Lateinischen im Gymnasium in Hinblick auf ein späteres Studium, in welcher Fächerkombination es auch sei, empfehle. Die durch und durch lateinisch geprägte Wissenschaftstradition Europas macht nicht nur das Lateinische für das Studium auch der neusprachlichen Philologien zur selbstverständlichen Voraussetzung; dies gilt auch für alle anderen Wissenschaften, die sich aus der Sprachlogik des Lateinischen als der gemeinsamen gesamteuropäischen Wissenschaftssprache bis ins 18. Jh. entwickelten. Wegen dieser Schlüsselfunktion des Lateinischen in jeder historischen Selbstvergewisserung der Gegenwart sind Lateinkenntnisse Studienvoraussetzung für fast alle Lehramts- und Magisterstudiumsfächer.
Und ich wiederhole ausdrücklich, um potentiellen Argumenten über fehlende Zukunftsbezogenheit und auch angeblicher fehlender Offenheit für neuere Entwicklungen von Seiten der Universitäten gegenüber den Bedürfnissen der Gesellschaft am Ende des 2. Jahrtausends entgegenzutreten: Lateinkenntnisse werden an der Universität Jena wie anderswo weder aus bloßem Bildungsdünkel oder unreflektiertem Traditionalismus gefordert, Lateinkenntnisse sind im Studium in erster Linie ein praktisches Handwerkszeug, das jeden Tag in Gebrauch ist. Sie stellen also keinen ungenutzten Hort geschichtlicher Allgemeinbildung dar. Dass Lateinkenntnisse innerhalb des einzigartigen historischen Kollektivgedächtnisses, das dem menschlichen Handeln der Nachgeborenen die Erfahrungen vergangener Gruppen und Gemeinschaften als Orientierungsrahmen zuführt, zudem diese Funktion besitzt, soll freilich nicht verschwiegen sein.
Die Geisteswissenschaften sind die Verwalter dieses einzigartigen Schatzes des bisherigen Erfahrungen der Menschen.
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Pro Latein - Meinungen
Professor Dr. Friedrich Maier, Humboldt Universität, Berlin,
in: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes 3/98, S.143 ff.
Die alten Sprachen sind nicht der Nabel der Welt. [...] Aber man darf wohl annehmen, dass Latein im Gymnasium ein Stützfach ist, in dem Sinne, dass es durch sein Angebot auch Wissens- und Könnensvoraussetzungen für andere Fächer schafft, dass also Deutsch, moderne Fremdsprachen, Geschichte, Politische Bildung, Kunsterziehung, Musik, auch Biologie und Mathematik von den Unterrichtsergebnissen der alten Sprachen mehr oder weniger profitieren.
Latein stützt wie kaum ein anderes Fach das pädagogische Programm eines Gymnasiums, das sich allgemein als ein hierarchischer Aufbau von Lern- und Erfahrungsebenen beschreiben lässt:
Moralisation kreativ Fähigkeit u.Bereitschaft zur Bewertung
Kontemplation affektiv Vermögen der Besinnung
Reflexion handlungs- Fähigkeit zum Denken
Information orientiert Verfügen über Wissen
Latein - Ein europäisches Fach
Der französische Historiker Jacques de Goff schreibt:
"Die moderne Welt von heute und morgen muss mit den Strukturen, den Traditionen und der Kultur Europas konfrontiert werden, die in mindestens zweieinhalb Jahrtausenden entstanden sind."
Der Biologe Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, sagt:
"In die Grundwerte europäischer Kultur muss jede Schule die jungen Menschen einführen, die den Anspruch erheben will, für das Leben in Europa tauglich zu machen."
Diese Grundwerte sind nach allgemeinem Urteil die Prinzipien des freiheitlichen, demokratischen Denkens, der Rationalität, der kritisch-analytischen Wissenschaft, der vernunftgeleiteten Orientierung, des römischen Rechts und der christlichen Lebensgestaltung.
Latein führt wie kein anderes Fach die Schüler unmittelbar an die Wurzeln europäischer Kultur; es verfügt über die primären Impulse zur Findung der europäischen Identität.
In der Antike sind die Mythen entstanden, die die Vorstellungswelt Europas seit der Renaissance bestimmen; damals vollzog sich der Schritt vom Mythos zum Logos, die Entdeckung des Geistes, also der Rationalität als Grundlage jeder kritisch-analytischen Wissenschaft, damals entstanden fast alle Denkmechanismen und Denkprinzipien, fast alle Literaturformen, damals erkannte und reflektierte man erstmals die Bedingungen und Möglichkeiten der Kommunikation (Rhetorik) und des menschlichen Zusammenlebens (Staatslehre).
Da Latein an die Wurzeln all dieser Elemente unserer europäischen Kultur führt, unterstützt es mehr und umfassender als jedes andere Fach die Identifikation mit Europa.
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Pro Latein - Meinungen
Wozu heute noch Latein?
Martin Wolter (Michelstadt, 1999, im Deutschen Bildungsserver)
1.Ist Latein eine "tote Sprache"?
Dazu muß man sich zunächst fragen, was man unter "Sprache" überhaupt versteht:
- Ist Sprache nur ein Instrument, um sich mit seinen Mitmenschen direkt zu verständigen? Dient also Sprache nur der unmittelbaren, verbalen Kommunikation?
- Oder ist Sprache - allgemeiner - eine Möglichkeit, um mit der Welt, allen Menschen, heute und damals, oder sogar zu sich selbst in Beziehung zu treten, Beziehungen aufrechtzuerhalten und zu vertiefen?
Sieht man Latein nur unter dem ersten Aspekt, scheint es wirklich "tot" zu sein, weil heute kein Mensch mehr - bis auf einige wenige Ausnahmefälle, Latein spricht.
Versteht man aber unter Sprache allgemein ein Mittel der Welterfahrung, dann lebt vielleicht keine Sprache in Europa mehr als Latein!
Ein bloßes Sprechen bedeutet noch lange kein "Sich-Verständigen". Oft redet man viel - und doch am anderen vorbei!
Sprechen allein bedeutet noch lange nicht, sich zu verstehen, auch wenn man die gleiche Sprache spricht! Dann lebt vielleicht das "Sprechen", aber die Beziehung ist "tot"!
Umgekehrt kann eine Beziehung als äußerst lebendig erfahren werden, auch ohne viel Worte zu machen, denken wir z.B. an den Slogan: "Lass Blumen sprechen!" - Blumen sprechen zumindest keine lebende moderne Fremdsprache.
Die Frage lautet also, was will man mit einer Sprache in erster Linie lernen: verbale Artikulation, um sich vielleicht im Urlaub begreiflich machen zu können, oder soll Sprache der Begegnung mit der Welt, den Menschen, sich selbst dienen; dann lebt wirklich keine Sprache heute mehr als Latein.
2. Mit wem und worüber sprechen wir im Lateinunterricht?
In den ersten Jahren mit römischen Alltagsmenschen über deren Lebenserfahrung, ihr Leben in der Gesellschaft, ihre Errungenschaften. Wir nehmen dabei nicht nur Fakten zur Kenntnis, sondern setzen uns auch mit ihren Ansichten kritisch auseinander oder vergleichen sie mit unseren heutigen Auffassungen:
- Versklavung von Menschen, Menschenrechte, Umgang mit Ausländern.
- Gladiatorenspiele, Brutalität im Fernsehen, in Computerspielen, in der Rockmusik.
- Wir unterhalten uns mit Odysseus und Aeneas über ihre Erfahrungen während des trojanischen Krieges oder der Vertreibung aus der Heimat, mit Dädalus und Ikarus über das Problem menschlicher Hybris und das Problem bedingungslosen Vertrauens in Technik und Wissenschaft.
- Und später sind Cäsar, Cicero, Seneca oder einer der antiken Dichter unsere Gesprächspartner; dann geht es um philosophische Fragestellungen, die bleibend aktuell sind und auch unseren Alltag betreffen können, wie z.B. die Frage, nach wem muss ich mich orientieren: nach der Mehrheit oder muss ich mir selbst treu bleiben.
- Cäsar weisen wir Manipulationen in seiner Berichterstattung, das "Schönen" von Fakten, nach und betreiben so "Medienkritik".
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- Vielleicht denkt man, man könnte die genannten Dichter und Philosophen ja auch auf deutsch lesen. Stimmt! Man kann sich aber auch mit Franzosen, Italienern, Spaniern durch einen Dolmetscher unterhalten oder es mit Englisch probieren. Ich denke, jedem ist klar, dass dies etwas anderes ist, als eine "originale Begegnung". Und dies gilt umso mehr, wenn man einer Zeit begegnet, die andere Vorstellungen oder Werturteile besaß, als wir heute, und man darüber hinaus nicht die Fähigkeit zu bloßer Unterhaltung anstrebt, sondern die Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Dialogpartnern.
- Auch allgemein untersuchen wir die Funktion von Sprache als Instrumentarium, Menschen zu beeinflussen, betreiben also sozusagen - von Anfang an - einen Rhetorikkurs.
- Natürlich vermittelt Latein so Inhalte, deren praktischer Zweck und Sinn sich häufig nicht unmittelbar erschließt; doch liegt vielleicht gerade darin auch ein wichtiger Erziehungsauftrag: sich mit Dingen zu beschäftigen, die sich nicht dem Diktat beugen, direkt etwas "nützen" zu müssen!
Dennoch hat Latein auch "praktische Vorzüge"
aufzuweisen:
Nach wie vor ist es die beste Grundlage zum Erlernen der wichtigsten europäischen
Fremdsprachen, vermittelt es viele technische Fähigkeiten, die auf vielfältige
Lebenssituationen übertragbar sind, wie z.B. folgerichtiges Denken, genaues
Analysieren, grammatische Fähigkeiten usw. nicht zuletzt ist es nach wie vor
Voraussetzung für viele Hochschulfächer. Wenn Ihr Kind mit dem Abitur also die
volle Hochschulreife erwerben möchte, sollte es Latein wählen.
Latein bietet so in einzigartiger Weise - als gymnasiales Schulfach - das, was man häufig mit "breiter Allgemeinbildung" bezeichnet.
Die heutige Berufswelt fordert von den Absolventen einer Schule oder Hochschule ein hohes Maß an Flexibilität:
- Niemand kann voraussehen, in welchem Bereich einer hochspezialisierten Arbeitswelt er später einmal eingesetzt wird.
- Häufig muss man eine Tätigkeit übernehmen, die der Berufsausbildung nicht oder wenig entspricht.
- ein häufiger Wechsel des Arbeitsortes (z.B. im Außendienst) ist heute schon die Regel und wird innerhalb eines vereinten Europas noch weitere Ausmaße annehmen.
Diese neuen Arbeitsbedingungen erfordern ein hohes Maß an Flexibilität.
Flexibilität ist nur erreichbar, wenn man über ein hohes Maß an Allgemeinbildung verfügt, auf deren Basis man sich rasch in die sich ständig ändernden Arbeitsbedingungen einfinden kann.
Daher sollt man auf eine möglichst vielseitige und breite Ausbildung achten und sich nicht zu früh einseitig auf eine bestimmte Laufbahn festlegen.