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Individuelle Förderung

Der große Bluff

Die Verabschiedung des Leistungsprinzips aus der Schule

von HANS PETER KLEIN


Seit Bologna und PISA wurde dem angeblich nicht mehr tragbaren
deutschen Bildungssystem eine Rosskur verpasst, die derzeit
ihren Höhepunkt noch nicht erreicht haben dürfte. Die
Protagonisten der Entwicklung versprachen im Rahmen ihrer
neuen Bildungskonzepte sowohl quantitativ als auch qualitativ
deutliche Verbesserungen entsprechend den OECD-Vorgaben.
Nahezu verdoppelte Abiturientenzahlen in immer mehr
Bundesländern bei gleichzeitigem Zurückfahren der
Sitzenbleiberquote gegen Null sowie eine exponentielle Zunahme
der Schüler mit der Abiturdurchschnittsnote von 1,0 (oder
sogar besser) werden der staunenden Öffentlichkeit
vorgestellt, all dies bei gleichzeitig verkürzter Schulzeit um
ein Jahr und angeblichen Leistungssteigerungen aller Schüler
in nahezu allen Fächern. Fragt man sich nach den Ursachen für
diese Erfolgsmeldungen, so hört man gebetsmühlenartig den
Verweis auf die den Schulen verordnete Aufforderung zur
Einrichtung individueller Fördermaßnahmen. Auch der
zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft soll mit einer
Individualisierung von Unterricht begegnet werden.


Individuelle Förderung in der Praxis - eine Mogelpackung

Dabei gilt es erst einmal zu klären, was man denn überhaupt unter individueller Förderung versteht? Von individueller Förderung kann man sicher dann sprechen, wenn die speziellen Verstehensprobleme eines einzelnen Schülers, zum Beispiel in Mathematik, von einem im Fach kompetenten Lehrer thematisiert und durch ausführliche Besprechung und fachdienliche Hinweise im optimalen Fall teilweise oder ganz beseitigt werden können. Laut Bertelsmann-Stiftung erhalten derzeit mindestens 1,1 Millionen Schüler kommerzielle Nachhilfe, was mit einem Gesamtbetrag von rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche schlägt, nichtkommerzielle Nachhilfe nicht eingerechnet. Diese sei nun höchst unsozial, da Kinder aus einkommensschwächeren Familien von dieser Nachhilfe ausgeschlossen blieben. Durch Einbau von Fördermaßnahmen in die Schulen sei diese Form der Nachhilfe abzuschaffen.

Wie sieht nun die angeblich individuelle Förderung der Schüler, die zu den eingangs beschriebenen Leistungsverbesserungen geführt haben soll, in der täglichen Praxis aus? Grundsätzlich werden die Lehrer dazu angehalten, in ihrem Unterricht jeden Schüler individuell zu fördern. Das ist billig und kostet nichts. Entsprechend lautet die Devise der Politiker: Fördern, fördern, fördern. Das PR-Ziel lässt sich in eine Formel fassen: 'hoher Anspruch' + 'alle schaffen es' = 'guter Unterricht' = 'gute Schule'. Die Lehrer vor Ort fragen sich verwundert, wie man denn bei dreißig und mehr pubertierenden Schülern dieser Aufforderung nachkommen soll. Gleichzeitig werden eingerichtete Förderschulen, zum Beispiel im Haupt- und Sonderschulbereich, mit Klassenstärken von zehn bis fünfzehn Schülern Klassenstärke flächendeckend abgeschafft, damit die Förderbedürftigen dann in Klassen mit dreißig und mehr Schülern zusammensitzen, ohne dass sie die dringend notwendige Förderung von speziell ausgebildeten Pädagogen in Kleingruppen noch erhalten. Der Hinweis auf Finnland ist dabei mehr als abwegig, da es hier in der Regel keine Klassen mit mehr als zwanzig Schülern gibt und zusätzlich noch ein weiterer Lehrer sowie weitere pädagogisch und psychologisch geschulte Kräfte die Lehrer entlasten. Würde man das Konzept der Finnen oder auch der USA, die ebenfalls neben den eigentlichen Lehrern über ein vielfältig geschultes Fachpersonal in ihren öffentlichen Schulen verfügen (zumindest in den reicheren Bundesstaaten) flächendeckend in Deutschland einführen, müssten dafür sicherlich hohe dreistellige Millionbeträge pro Jahr in die Hand genommen werden. Davon kann aber keine Rede sein. Die zusätzlichen Mittel, die hier - wenn überhaupt - eingesetzt werden, bewegen sich im marginalen Bereich. Man hofft sogar, Geld einsparen zu können, indem man die teuren Förderschulen nach und nach abschafft.

Immerhin besteht in einigen Bundesländern für Schulen die Möglichkeit, eine zusätzliche LehrersteIle zu beantragen (NRW) um zumindest eine punktuelle Förderung in der ein oder anderen Jahrgangsstufe vor Ort zu gestalten. Schüler mit nicht ausreichenden Leistungen können dann auf freiwilliger Basis speziell in Mathematik oder den Fremdsprachen an einer zusätzlichen Unterrichtsstunde mit in der Regel zehn bis zwanzig anderen Schülern pro Woche teilnehmen. Von einer individuellen Förderung im oben definierten Sinn kann aber auch hier kaum die Rede sein. Überprüfungen von Leistungen finden dort nicht statt. Völlig kontraproduktiv dürfte sich dabei das auch den Schülern in Kürze bekannte generelle Verbot des Sitzenbleibens in immer mehr Bundesländern auswirken: warum sollte ein Schüler an einer dieser Fördermaßnahmen am späten Nachmittag teilnehmen, wenn seine unzureichenden Leistungen als solche nicht mehr ausgewiesen werden dürfen? Insbesondere die Schüler aus bildungsfernen Schichten dürften hier kaum erreicht werden.

Von Gauklern, Taschenspielern und allerlei Tricksereien

Stattdessen werden die oben beschriebenen völlig unzureichenden Konzepte als das Non plus Ultra der neuen Bildungsoffensive gepriesen. In Wahrheit haben wir es hier zu tun mit einer Mischung aus Taschenspielertricks, Verordnungen wie dem Verbot des Sitzenbleibens, der ausschließlichen Beachtung des Elternwunsches nach der Schulform und vieles mehr. Hinzu kommen allerlei subtile Druckmechanismen auf Schulleiter und Lehrer, die es anscheinend immer noch nicht verstanden haben, dass die Vergabe unzureichender Leistungen nicht ins Bild der derzeitigen Bildungslandschaft passt und nicht dem Schüler, sondern dem Lehrer zur Last gelegt wird. Lehrer, die dies nicht kapiert haben sollten, werden bei der Vergabe unzureichender Leistungen mit zusätzlichen Förderberichten am Wochenende sanktioniert. Die Folgen liegen auf der Hand: Mangelhafte und ungenügende Leistungen werden einfach mit ausreichend oder besser beurteilt. Damit die mittleren und guten Schüler nicht so stark benachteiligt sind, werden auch deren Noten angehoben. An den Gymnasien werden die Noten nachgebessert, damit deren Schüler gegenüber den ebenfalls Abitur vergebenden Gesamt-, Stadtteil- und Realschulen Plus nicht ins Hintertreffen gelangen. Da selbst in den schriftlichen Fächern die Schüler zu fünfzig Prozent nach der mündlichen Note beurteilt werden, gibt es hier keine Probleme, die Noten nach oben zu setzen, in den klassischen 'Nebenfächern' sowieso nicht. »Warum sollte unter derartigen Bedingungen ein Lehrer einem Schüler, der ihn freundlich grüßt, im Unterricht nicht stört und seine Hausaufgaben zumindest vorlegen kann etwas Schlechteres geben als mindestens ein befriedigend oder gut?« so ein Schulleiter auf einer Tagung. Unterstützt wird diese Entwicklung durch die in den schriftlichen Fächern im Abitur eingesetzten kompetenzorientierten Aufgabenstellungen, in denen die Lösungen im ausführlichen Arbeitsmaterial weitgehend enthalten sind. Weiterhin werden Notenvergabeschemata vorgegeben, die in den letzten Jahren deutlich nach unten korrigiert wurden. Von ehemals mindestens fünfzig Prozent korrekt zu beantwortenden Fragen für ein 'ausreichend' (in den USA sind es 61 Prozent!) ist man mittlerweile in mehreren Bundesländern bei vierzig Prozent und darunter angelangt und auch an den Hochschulen gibt es immer mehr Fachbereiche, die ihre Bewertungsschemata genauso deutlich nach unten absenken. Im Abitur können die Lehrer zusätzlich rund acht Prozent in einer Abiklausur für Leistungen außerhalb der Fragestellung vergeben, wie zum Beispiel für die Gliederung, die Form und den Aufbau der Arbeit. In Hamburg werden die Schüler mittlerweile nach grundlegendem und erweitertem Niveau differenziert bewertet.


Die radikale Inklusion: intraindividuelle Förderung kontra gemeinsames Lernen

Betrachtet man die neuesten Entwicklungen in einigen Bundesländern, so scheinen sich hier die Anhänger der radikalen Inklusion in der Reformpädagogik weitgehend durchzusetzen, die ja weit mehr bedeutet, als die Integration behinderter Schüler in den normalen Schulalltag: die Einführung einer Einheitsschule für alle ohne Ausnahme mit besonderer Stoßrichtung auf die abzuschaffenden Gymnasien (»ohne die Abschaffung des Gymnasiums gibt es keine echte Schulreform« so das Credo), die Abschaffung vergleichender Noten, der Verzicht auf jegliche vergleichende Leistungsbeurteilung, die Abschaffung des Sitzenbleibens, der generelle Verzicht auf jegliche Form von für alle geltenden Bildungsstandards und Lehrplänen und letztlich auch der Verzicht auf die ungerechte Vergabe von unterschiedlichen Bildungsabschlüssen. Jeder Schüler erhält nach diesem Konzept einen eigenen Bildungsplan. Lediglich die intraindividuellen Lernforschritte dürfen beurteilt werden. »Weit sind wir da nicht mehr von entfernt« so ein Schulleiter auf einer Tagung. Die neue inklusive Pädagogik mit dem Anspruch auf professionellen Umgang mit Heterogenität zeichnet sich jetzt schon in Grundzügen ab: »Der eine Schüler bekommt ein 'gut', weil er zum Beispiel die Mathematik Aufgabe verstanden hat und den Stoff beherrscht, ein 'sehr gut' wäre ungerecht gegenüber den Schülern mit eventuell schlechteren Lernvoraussetzungen. Der zweite Schüler hat die Mathematik-Aufgabe zwar nur halb verstanden und kann auch nur Teillösungen anbieten, er hat sich aber bemüht und auf seinem deutlich niedrigeren Leistungsniveau gewisse Lernforschritte erzielt, auch dafür bekommt er ein 'gut'. Der dritte Schüler weiß letztlich gar nicht, worum es eigentlich geht, er hat weder die Aufgabe verstanden und kommt zu keinerlei brauchbaren Ergebnissen, er ist extrem überfordert, er hat sich aber in der Gruppe zumindest teilweise eingebracht, was unter Berücksichtigung seiner ungünstigen Lern- und sozialökonomischen Voraussetzungen aus Gerechtigkeitsgründen im Rahmen seiner Möglichkeiten ebenfalls mit 'gut' bewertet wird« so der Schulleiter weiter. Von einer individuellen Förderung als zusätzliche Unterstützung zum Erreichen der für alle vorgegebenen Lernziele hat man sich nach diesem Konzept längst verabschiedet. Gemeinsames Lernen an einem gemeinsamen Unterrichtsgegenstand ist Schnee von gestern. 'Zieldifferenziertes Lernen' heißt das Zauberwort, dass letztlich nicht anderes bedeutet als die endgültige Verabschiedung vom Leistungsprinzip aus der Schule.


Individualized instruction - ohne positiven Effekt auf Lernprozesse

Derzeit melden sich in immer kürzer werdenden Abständen auch namhafte Wissenschaftler in Büchern und Zeitungsartikeln zu Wort, die das deutsche Schulsystem, dass noch bis vor wenigen Jahren in der Welt einen hervorragenden Ruf hatte, in seiner Gesamtkonzeption in Frage stellen und als eines der schlechtesten Schulsysteme der Welt darstellen. So spricht Kollege Precht in seinem neuen Werk von einer Bildungskatastrophe in Deutschland und stellt seine eigenen Forderungen als Bildungsrevolution dem erstaunten Leser vor (anscheinend ist ihm das bisherige deutsche Bildungssystem gar nicht so schlecht bekommen). Auch dort tauchen unter anderem Forderungen nach Abschaffung des Fachwissens, der Noten, nach konstruktivistischen Unterrichtskonzepten und einer Individualisierung von Unterricht auf, die eher auf eine persönliche Überzeugung des Autors als auf wissenschaftlich belastbare Untersuchungen zurückzuführen sind. Nun hat der Australier John Hattie in seinem viel beachteten Werk 'Visible Learning' in einer bisher nie da gewesenen 'Super'-Metaanalyse von über 800 Metaanalysen über die Effektivität von Unterrichtsstrategien, die ihrerseits auf mehr als 50.000 Einzelstudien basieren, herausgefunden, dass gerade 'individuallzed instruction' so gut wie keinen nachweisbaren Effekt auf Lernprozesse hat (Hattie 2009). Man setzt also auf ein Pferd, dass immerhin laut der bisher größten jemals durchgeführten wissenschaftlichen vergleichenden Studie nicht dazu geeignet ist, die immer größer werdenden Probleme in den Schulen auch nur annähernd erfolgreich meistern zu können.


Auf den Lehrer kommt es an – nicht auf die Methoden

Auch der neue Methodenwahn in Deutschlands Schulen lässt sich wissenschaftlich betrachtet durch nichts belegen. Nahezu alle ernst zu nehmenden Studien weisen auf die zentrale Rolle des Lehrers hin. Stattdessen werden ausschließlich schülerzentrierte Unterrichtsmethoden in den einzelnen Bundesländern als allein seligmachend ausgewiesen, in denen - nach Hattie in einem falsch verstandenem Konstruktivismus - die Generierung des Wissens durch den Schüler selbst erfolgen muss und der Lehrer nur noch die Funktion des Lernbegleiters hat. Die Ergebnisse der Hattie-Studie zeigen nun aber eindeutig, dass aktive und vom Lehrer gesteuerte Instruktionen um ein Vielfaches effektiver sind als ungesteuerte. lernbegleitende Maßnahmen. 'Reciprocal teaching', was im weitesten Sinne dem fragend-entwickelnden Unterrichtsprinzip entspricht, 'direct instructlon' und 'quality of teaching' weisen mit die höchste Wirksamkeit auf, während zum Beispiel 'problem based learning' praktisch wirkungslos bleibt. Auch die Amerikaner haben bereits um die Jahrtausendwende Erfahrungen mit 'competency based learning' und konstruktivistischen Unterrichtsmethoden vor allem in den Bezirken des südlichen Manhattens in New York gesammelt, damals hoch gelobt, heute im Rückblick als gescheitert ausgewiesen (Ravitch 2009).

Auf die Qualität des Lehrers kommt es an, dies ist dann auch das Fazit des Buches von John Hattie. Wer würde dem widersprechen und das haben nicht nur die Finnen schon vor langer Zeit begriffen und räumen ihren Lehrern selbstverständlich Methodenfreiheit ein. Es gibt derzeit wohl kein Land auf der Welt, das einem derartigen Methodenwahn zum Opfer gefallen ist wie Deutschland. Wissen als Grundlage von Können oder eines sinnvollen Kompetenzbegriffs ist Teufelszeug. Entsprechend enthalten die Kerncurricula keine verbindlich vorgeschriebenen Fachinhalte mehr. Jede Schule erstellt nach Gutdünken ihren eigenen Fachlehrplan, der von dem der Nachbarschule durchaus in weiten Teilen inhaltlich abweichen kann. Die Schulinspektionen sind entsprechend: überprüft und bewertet wird das Hantieren mit möglichst vielen der schülerzentrierten Unterrichtsmethoden, auf die Spitze getrieben durch Bewertungsraster, in denen der Unterricht nach der Dauer der gesprochenen Worte beurteilt wird: je länger der Schüler und je kürzer der Lehrer geredet hat, umso besser der Unterricht. Was da inhaltlich gesagt wird, ist nebensächlich. Hauptsache in der Gruppe erarbeitet und per Power Point präsentiert, der Droge des kleinen Mannes. Die Methoden, die eigentlich das Vehikel sein sollten, Inhalte einem besseren Verständnis zuzuführen, werden zum Inhaltsersatz und zum Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens.

Entscheidend sollte nun aber mal das Ergebnis der Bildungsanstrengungen sein und nicht die Methoden, die eigentlich nur dazu gedacht sind, Lern- und Verstehensprozesse günstig zu beeinflussen. Wenn Barcelona im Champions-League-Spiel bei Celtic Glasgow bei 87 Prozent Ballbesitz dennoch mit 1:0 verliert, mag man zwar schön gespielt haben, erfolgreich war man aber nicht. Wenn gar Spanien im Confed-Cup Endspiel gegen Brasilien mit 3:0 untergeht, beginnt der Abgesang auf ein ehemals hochgelobtes Schnellpassspiel, vom langweiligen ineffektiven Rasenschach ist nun die Rede. Jeder Lehrer, der in der Schule seit Jahrzehnten tätig ist, kennt dieses Spiel vom Kommen und Gehen der jeweils als alternativlos angepriesenen neuen Heilsbringer, die in dieser Form angewendet nur vom eigentlichen Lernen und Verstehen der Sache ablenken.


»Alle schaffen es« - nur was?

Die alte Forderung nach völliger Abschaffung des Notensystems oder zumindest seines Ersatzes durch Lernentwicklungsberichte steht spätestens seit den Regierungswechseln in Niedersachsen und Baden-Württemberg auf der Tagesordnung. »Alle schaffen es« ist einer der meist geäußerten Slogans dieses Konzepts. Das Abitur für jeden von Geburt an und am besten den Bachelor gleich mit scheint die finale Forderung zu sein. Nur das wird als gerecht empfunden. Erst dann ist auch endgültig der letzte Funken Leistungsorientierung aus dem System Schule/Hochschule verschwunden. Die 68er Sozialromantiker dürften sich selbst die Augen reiben, wie in kürzester Zeit jetzt auch die letzten Bastionen eines leistungsorientierten Bildungssystems nahezu widerstandslos hinweg gespült werden. In den 70er Jahren waren sie damit noch kläglich gescheitert. Das Gymnasium - wenn man es schon nicht abschaffen kann - wird von unten ausgehöhlt und mutiert zur neuen Volksschule, das Abitur ist der neue Volksschulabschluss mit der entsprechenden Wertigkeit. Gerade dadurch wird aber der Druck auf Eltern, Schüler und dann auch die Studierenden drastisch erhöht. Wenn fast jeder das Abitur oder den Bachelor bekommt und selbst bei den Abschlüssen - auch an den Universitäten - ein Notendumping längst eingesetzt hat, muss man Bestnoten vorweisen können, um begehrte Studienplätze oder Arbeitsplätze zu erhalten. Wenn letztendlich alle Bestnoten haben, nützt auch das nichts mehr. Die Selektion schlägt dann aber umso brutaler zu, je später sie einsetzt. Zunehmend dürften dann auch andere Kriterien, wie zum Beispiel die Herkunft und finanzielle Ressourcen eine entscheidende Rolle spielen. Auch eine drastische Zunahme von Privatschulen nach angloamerikanischem Vorbild dürfte in Kürze einsetzen. Die Kinder finanziell schwächer gestellter gesellschaftlicher Schichten werden dann in öffentlichen Schulen 'abgeschult'. Man ist gerade dabei, das Kind mit dem Bade auszuschütten.


Das OECD-Märchen

Dass ein Land mit extrem hohen Akademikerquoten den höchsten Wohlstand garantiert und praktisch mit Arbeitslosigkeit nichts mehr zu tun haben dürfte, ist eines der vielen OECD-Märchen, die seltsamerweise selbst von intelligenten Menschen aber immer noch geglaubt werden. Ein Blick auf unsere südlichen Nachbarn dürfte da hilfreich sein. Diese und sogar die angloamerikanischen Länder stellen gerade fest, dass das duale Bildungssystem aus Deutschland zur Behebung ihrer Bildungsproblematik einen erheblichen Anteil leisten könnte, während wir gerade dabei sind, dieses in einem nie gekannten Akademikerwahn überflüssig zu machen. Überhaupt scheint die OECD mit deutschen Führungspositionen im Bildungssektor in erster Linie auf ein Land Einfluss zu haben - auf Deutschland. PISA und BOLOGNA sind nicht nur in den USA nahezu völlig unbekannt, höchstens als zwei schöne Städte in Italien und diese Rückkehr zur Normalität sollte sich auch in Deutschland alsbald wieder einstellen.


Die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller

Nun könnte man die Aufgabe von Qualität im Bildungssystem zugunsten von Quantität ja in einer Demokratie durchaus der Öffentlichkeit genauso vermitteln und um Wählerstimmen dafür werben. Fehlanzeige! Den Politikern und ihren Beratern scheint nun nichts mehr peinlich zu sein: Sie weisen diese für jedermann offensichtlichen Nivellierungen grundlegender Ansprüche der mittlerweile staunenden Öffentlichkeit als grandiose Erfolge aus. Der Hamburger Senat feiert eine -zunehmende Qualität bei einer gleichzeitig fast verdoppelten Abiturientenzahl in den letzten sechs Jahren und dies auch noch mit um ein Jahr verkürzter Schulzeit. Derzeitige Überprüfungen dieser Erfolgsmeldungen anhand von Hamburger Zentralabituraufgaben in verschiedenen Fächern über den Zeitraum von 2005 bis 2012 deuten eher auf das genaue Gegenteil hin. Aber auch die Südländer, die ja in den einschlägigen Studien bisher immer deutlich vorn gelegen hatten, haben sich mittlerweile dem Druck der Bevölkerung vor anstehenden Wahlen gebeugt und eifern den führenden Ländern in dieser Entwicklung nicht nur nach, man hat bei den neuen Konzepten sogar den Eindruck, sie setzen zum Überholen an. Sicherlich zurecht fordern die Eltern hier wesentlich bessere Noten ein, damit ihre Kinder im Vergleich zu einigen der mehr nördlich gelegenen Bundesländern bei der Zulassung zum Hochschulstudium nicht benachteiligt werden. Da wollen dann auch die ehemals durchaus auf Leistung getrimmten neuen deutschen Bundesländer nicht das Nachsehen haben und legen ebenfalls nach. Anscheinend scheint diese Nivellierung der Ansprüche in einer Abwärtsspirale auf der nach unten offenen Richter Skala derzeit durch nichts zu stoppen zu sein.



Der Autor Prof. Dr. rer. nat. Hans Peter Klein lehrt Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe Universität Frankfurt und war 2011/2012 als Gastprofessor am College of New Jersey tätig.