Das hatten sich viele Befürworter des im Juli 2011 ausgehandelten Schulkonsenses anders vorgestellt. Der hochgelobte 'Schulfrieden' sollte angesichts zurückgehender Schülerzahlen und damit einhergehender Existenznöte einzelner Schulen den Kommunen ermöglichen, ein verantwortbares Bildungsangebot vorzuhalten.
Doch in immer mehr Kommunen läuten die Schulträger, ohne dass die beschriebenen Voraussetzungen gegeben sind, das Ende einzelner Schulen ein. Vereinzelt nur verweist man auf die demografische Entwicklung. Doch verstärkt sich der Eindruck, dass viele Schulträger durch die 'Freigabe' der Schullandschaft-Gestaltung einen Schlussstrich unter die seit vielen Jahren anhaltenden, als unselig empfundenen Strukturdebatten ziehen wollen.
Nicht auszuschließen, dass die klammen Haushalte in nicht geringem Maße zu den Hauruck-Prozessen beitragen. Von Düsseldorf aus verharren die großen Parteien in der Haltung des Abwartens. Keiner bremst die kommunalen Aktivitäten. Keiner sieht sich in der Pflicht, auf die Sachzusammenhänge zu verweisen. Keiner gebietet vor Ort den Schulträgern Einhalt, wenn sie ohne jede Not funktionsfähige, gut arbeitende, von Eltern akzeptierte Einzelschulen im Schnellverfahren schließen. In den meisten Fällen sind Realschulen die Opfer einer Schnellschuss-Politik, die den Schulkonsens als Aufforderung missinterpretiert, schnellstens ein zweigliedriges Schulsystem in Nordrhein-Westfalen zu etablieren.
Landauf, landab schätzen viele Eltern, Lehrkräfte und auch Kommunalpolitiker mittlerweile den Schulkonsens negativ ein, weil er statt Struktur-Befriedung Schulunfrieden - manche sprechen von 'Schulkrieg' - vor Ort gebracht hat. Misstrauisch beäugen sich die Schulträger gegenseitig. Eine über Grenzen hinausblickende Schulentwicklung findet noch seltener als früher statt. Der Gründungsbeschluss von Sekundarschulen und Gesamtschulen führt reflexartig dazu, dass Nachbarkommunen sich schnellstens auf den Weg begeben, um nur ja nicht zu spät zu kommen. In diesem Wettlauf vergisst man vielfach jede Rücksprache mit Kollegien, Schulleitungen und Eltern. Die Hektik ist flankiert von Schlagwort-Begründungen, überstürzt zusammengestellten und abgeschriebenen Konzepten und bei Gesamtschulgründungen von unrealistischen Vorstellungen, wie beispielsweise die in sechs Jahren erforderlichen Schülerzahlen für die Funktionsfähigkeit von Oberstufen zu erzielen sind. Eine höchst gefährliche Entwicklung, die wie im Domino-Effekt in einigen Jahren weitere unangenehme Entscheidungen erforderlich macht.
Während beispielsweise in Castrop-Rauxel eine Bürgerinitiative Ende Oktober 2012 im Bürgerentscheid mit 13.270 Stimmen gegen 1.544 für den Erhalt einer Realschule erfolgreich war, laufen und liefen andere Initiativen, unter anderem in Bergisch-Gladbach (Erhalt eines Gymnasiums), Mülheim (Erhalt einer Hauptschule), Ostbevern, Herdecke, Wermelskirchen, Iserlohn (Verhinderung einer Gesamtschule), Kerken (Gründung einer Gesamtschule), Lüdinghausen, Duisburg (Erhalt einer Realschule), Balve (Erhalt einer Realschule), Meerbusch (Gründung einer Sekundarschule oder Gesamtschule), Bünde, Bremen, Soest, Köln, Kleve und Wilnsdorf.
Ende Oktober 2012 zählte die Initiative 'Mehr Demokratie' acht laufende oder angekündigte Bürgerbegehren zu schulpolitischen Fragen. Ausdruck vertrauensvoller Bildungspolitik? Sollte nicht der Elternwille entscheidender Maßstab für das Schulformangebot sein? Wird der den Kommunen durch den Schulkonsens gelieferte 'Instrumentenkasten' (Klaus Kaiser, CDU) als Folterwerkstatt missbraucht? Statt Ersatz-Alternative wird die Sekundarschule den Eltern als vermeintlich attraktiveres Gegenangebot offeriert. Manche Eltern sind zurückhaltend. Sie haben Schwierigkeiten zu glauben, dass eine in der Erprobung befindliche neue Schulform solide sei und einen guten Ruf besitzende Schulformen von vornherein toppen werde (vgl. unter anderem Befragungen von Kölner Grundschuleltern).
Nun würde man erwarten, dass die Erfahrungen bei der Umsetzung des Schulkonsenses die schulpolitisch Verantwortlichen nachdenklich machten. Weit gefehlt! Der Referentenentwurf zum Ersten Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen verlagert maßgebliche Entscheidungen im Inklusionsprozess auf die kommunale Ebene. Die Schulträger erhalten die Möglichkeit, unabhängig von der vorhandenen Schülerzahl, Förderschulen zu schließen. Sie entscheiden, welche Schulen Schwerpunktschulen zur Umsetzung der Inklusion werden. Sie befinden darüber, ob 'Gemeinsames Lernen' in den Schulen stattfindet, und übernehmen damit die bisher von Seiten der Schulaufsicht vorgenommenen pädagogischen Einschätzungen und Beurteilungen. Sie entscheiden, ob die Zahl der in einer Schule aufgenommenen, sonderpädagogisch zu unterstützenden Schülerinnen und Schüler begrenzt wird oder nicht. Sie legen die Größe der Klassen fest, wobei diejenigen mit Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf geringfügig kleiner sein können auf Kosten der Parallelklassen, die entsprechend, um den jeweiligen Klassenfrequenzrichtwert im Durchschnitt zu erzielen, vergrößert werden müssen.
Wird damit unterschiedliches Handeln im Land provoziert? Schon sprechen
selbst Kommunalvertreter von der Gefahr eines Flickenteppichs. Hat sich
die Schulaufsicht aus ihrer Verantwortung völlig entlassen? Findet
überhaupt noch eine Prüfung der pädagogischen Erfordernisse
statt? Und wie glaubwürdig kann das Land noch vom Wahlrecht der Eltern,
zwischen Förderschulen und allgemeinen Schulen wählen zu können,
sprechen? Die Grenzen jedenfalls in der Verantwortung für äußere
und innere Schulangelegenheiten verschwimmen. Zweifellos eine neue Qualität
in der Schulpolitik! Während den Einzelschulen bei vollmundiger Beteuerung
der Eigenverantwortlichkeit, beispielsweise in der Durchführung von
Zeugniskonferenzen oder der Umsetzung von Fortbildungsmaßnahmen,
engste Vorgaben gemacht werden, wird die Verantwortung für wesentliche
schulpolitische Entscheidungen in die Kommunalentscheidung gegeben. Es
stellt sich die Frage, ob das Land der Notwendigkeit, wesentliche Entscheidungen
parlamentarisch zu treffen, noch hinreichend nachkommt. Wer jedenfalls
bei der Schulkonsens-Ausgestaltung eine Abwendung von Schulvielfalt erkennt
und wen es dabei fröstelt, dürfte bei den Vorhaben zur Inklusion
zum Eisblock gefrieren. Das Misstrauen in die Schulpolitik wächst.
Die Rigorosität, die Unbeirrbarkeit in der Abwicklung vornehmlich
funktionsfähiger Realschulen und das Unvermögen sowie der Unwille,
zivilisiert miteinander zu kommunizieren, sind äußerst bedenklich.
Schade nur, dass die Akzeptanz der Inklusion dabei großen Schaden
nimmt.
Zum Autor: Peter Silbernagel ist Landesvorsitzender des Philologenverbandes Nordrhein-Wesfalen
Fundstelle des Artikels: Zeitschrift "Bildung aktuell", Nr.7/2012, Ausgabe Dezember, Seite 4 f.